Herbert Schmidt – Materie im Prozess
[Materialbilder, Wandobjekte, Papierarbeiten]
Kulturhalle Tübingen 03.03. – 01.04.2017
Gerüchten zufolge soll es sich im Jahr 2012 zugetragen haben. In Nordostgrönland – nicht weit vom Nordpol – begegneten sich einer der vielversprechendsten jüngeren deutschen Maler Daniel Richter (*1962) und der Grand Old Man der dänischen Kunstgeschichte Per Kirkeby (seines Zeichens Jahrgang 1938). In einem überlieferten Zeitungsinterview beschrieb es besagter Daniel Richter (nicht zu verwechseln mit dem namensgleichen Gerhard Richter): „Er [Kirkeby] reiste gerade ab, ich gerade an. Es war ein Projekt der dänischen Akademie, Geologen, Archäologen, Permafrostforscher und Künstler sind gemeinsam unterwegs. Die Wissenschaftler suchen nach Frühkulturen oder machen Bohrungen. Die Künstler müssen nur da sein und das auf sich wirken lassen.“
Im Fall Kirkeby nun liegt die Sache freilich anders: Der heute unumstritten als Maler, Zeichner, Dichter, Vertrauter von Joseph Beuys u. a. Berühmte hatte ursprünglich als Geologe promoviert und bereits 1958 seine allererste Grönlandexpedition unternommen. Lange bevor der Begriff Klimawandel in aller Munde geführt wurde und sich Zeitgenossen wie Ilija Trojanow um die tatkräftige Bekämpfung des Eistaus der Gletscher und Weltmeere verdient gemacht haben, hatte Per Kirkeby zuerst den naturwissenschaftlichen und beinahe gleichzeitig auch den bildkünstlerischen Forscherblick auf die Geschichtlichkeit von Natur und menschlicher Existenz – samt deren gegenseitigen Wechselwirkungen und Abhängigkeiten – gelenkt. Mit Fug und Recht kann man Kirkeby so als Vordenker (mindestens als Mitdenker) der sog. Land Art bezeichnen, auch wenn sich deren Hauptprotagonisten – wie beispielsweise der Amerikaner Michael Heizer – in den 1960er Jahren stets gegen die Vereinnahmung durch die im Entstehen begriffene Ökologiebewegung zu verwehren wussten, indem sie kategorisch klarstellten: „Es geht um Kunst, nicht um Landschaft!“
Im Wissen und in dem Bewusstsein globaler Umweltzerstörung und deren unausweichlichen Konsequenzen für uns und die nachkommenden Generationen hat inzwischen selbst (und gerade!) in den Kulturwissenschaften der Terminus Geological Turn seinen Einzug gehalten. Gemeint ist die Notwendigkeit eines allgemeinen Umdenkens im Umgang mit den natürlichen Ressourcen und damit letztlich auch im Umgang miteinander und allen anderen Mitgeschöpfen. Nicht umsonst ging so denn auch der Titel einer richtungsweisenden Gruppenausstellung mit internationaler Künstlerbeteiligung in den Krefelder Museen Haus Lange und Haus Esters im vergangenen Jahr auf eben jenen Per Kirkeby zurück, der da lautete: „Die Kräfte hinter den Formen – Erdgeschichte, Materie, Prozess in der zeitgenössischen Kunst“.
Materie im Prozess ist hingegen die aktuelle Ausstellung von Materialbildern, Wandobjekten und Papierarbeiten von Herbert Schmidt hier in der Kulturhalle in Tübingen überschrieben. Unser Künstler wurde 1948 in Herrenberg geboren und lebt und arbeitet – seit 2001 freischaffend – in Rottenburg, wo er auch den Vorsitz der Atelier- und Werkstattgemeinschaft Künstlerhof Alte Spitalscheune einnimmt. Herbert Schmidt berichtet auf seine ganz eigene Weise von der Erdgeschichte; im wörtlich materialen Sinne stellen die von ihm gezeigten Werke Erdschichten, Erdgeschichten dar, die die geheimen Kräfte, die diesen hinter den gezeigten Formen innezuwohnen pflegen, ahnungsvoll offenbaren. Im Spannungsfeld von Ordnung und Struktur einerseits sowie von intuitiver Unbändigkeit und spontaner Emotionalität andererseits – wie es der Künstler selbst einmal formuliert hat – entstehen diese Bildkompositionen, von denen wir in der hiesigen Präsentation erstmals eine Auswahl ganz neuer Arbeiten (ausschließlich aus den Jahren 2016/17) sehen.
Im Unterschied zu ansonsten geläufigen Materialbildern anderer Künstler – sogenannten Assemblagen zum Beispiel – arrangiert Herbert Schmidt die von ihm verwendeten Fundstücke nicht einfach zu einem in seiner Unterschiedlichkeit der Materialitäten facettenreich schillernden Ensemble aneinander. Vielmehr erscheinen die hier plastisch bearbeiteten und farblich formal verfremdeten Papiere, Karton, Bleche, Holzsplitter, Stofffetzen und vieles andere mehr mit Bindemitteln, Sand, Steinmehl und anderen Massen eingebettet in reliefartige Malmateriallandschaften und so organisch miteinander verfügt. Die gestisch informelle Malfährte wechselt rhythmisch mit lineament eingeritzten Zeichenspuren und Schriftelementen, zweidimensional sich zurückziehendes Darstellungsareal mit skulpturaler Haptik, die berührt zu werden trachtet.
Fragmente also einer Alltagswelt, die zur Abfallwelt mutiert ist, lösen sich diese Einzelelemente von ihrer ursprünglichen Oberflächenqualität ganz ab und verbergen sich teilweise dem Blick des sie Betrachtenden, indem sie nur so eben noch unter den Farb- und Materialsedimenten hervorlugen, als hätten wir es mit einer unzureichend gesicherten archäologischen Ausgrabungsstätte fremder und zugleich doch nur allzu bekannter Kulturen zu tun: Schichten als Geschichte und Geschichten, zeithaltige Bildgeologien der Gegenwart in jedem Fall.
In den genannten Sedimenten soeben erst Entdecktes, der Vergangenheit – und damit der Vergänglichkeit – justament Entrungenes läuft so Gefahr, umgehend schon wieder in Vergessenheit zu geraten. Insbesondere die Erd- und Grautöne der aufgebrachten Farbe verstärken diesen Eindruck von Verwitterung noch zusätzlich. Impulsive Schüttungen, verschlierte Fleckenbildungen, amorph strukturierte Materialinseln lassen keine malerische Faktur (als eigentliche Handschrift des Künstlers) erkennen; analog zu Naturlandschaften sind Spalten und Krater, Furchen und Verwerfungen der verschiedenen Werkstoffe und Bildgründe stehengelassen, sodass die Arbeiten von Herbert Schmidt insgesamt weniger als gemachte denn als vermeintlich natürlich so gewordene erscheinen müssen.
Im Gegensatz zu den in unserer Jetztzeit allseits verbreiteten glossy glitzernden Hochglanzoberflächen der Werbewarenwelt, in deren Klavierlackoptik wir uns selbst nur allzu gerne makellos und randvoller Eitelkeit widerspiegeln möchten, sind es hier nachgerade die ungeglätteten Oberflächen (rau, rissig, faltig zerfurcht, verkantet und vernarbt), die eine ungewöhnlich anziehende Ästhetik entwickeln. Nebensachen und andere Fundstücke, dem Anschein nach als vollkommen unnütz Erachtetes werden in den neu geschaffenen Kontexten von Form, Fläche und Farbe zu einem ebenso neuen Leben erweckt. So unversehens bildwürdig geworden ist ihnen – der funktionalen und auf ökonomischer Effizienz hin orientierten Bestimmung erst einmal enthoben – ein gänzlich selbstsinniger Reiz wie eine eigene auratische Körperhaftigkeit verliehen, die das Transformationspotential von Materie und Material anschaulich macht und sich damit dem schnelllebigen Konsum widerständig zu entziehen versucht.
Wie immer stets für eine Überraschung gut präsentiert Herbert Schmidt in der Ausstellung eine – auch für Eingeweihte seines künstlerischen Tuns – völlig neue, neuartige Arbeit bzw. Werkgruppe unter dem Titel Construction (2016/17). Waren die tiefschwarzen Schnittbilder im Atelier noch als einzelne Module über die Wände verteilt (gewissermaßen im Zustand under construction, also auch hier Materie im Prozess begriffen), formieren sie sich nun in der raumhohen Kulturhalle zu einem einzigartigen monumentalen, wenngleich unlesbaren Zeichensystem. Aus ebenfalls vernutzten Bruchstücken alter, auf dem Boden vorgefundener Dachpappen (mitsamt den entsprechenden Gebrauchsspuren und Markierungen), die mit der für sie spezifisch körnig-porösen Beschaffenheit dem Künstler wie gerufen erschienen haben mussten, entwirft er ein vor der Wand stehendes / wie schwebendes Gebilde. In seiner offensichtlich architektoralen Ausprägung lässt dieses fin(e)ster funklende Bildgebilde allerdings vollständig offen, ob wir es etwa mit petroglyphen Landebahnen außerirdischer Zivilisationen, diesseitig frühgeschichtlichen Grabungsbefunden oder doch ganz und gar neuzeitlich anmutenden metropolen Airport-Baulichkeiten (diese bekanntlich auch häufig under unübersehbarer construction stehend) zu tun haben.
Doch was die vorgebliche – vielleicht besser: vergebliche – Lesbarkeit und Entschlüsselung derartiger Arbeiten betrifft, wie sie auch diejenigen von Herbert Schmidt vorstellen, kehre ich gerne wieder zum alten Dänen Kirkeby zurück, der dereinst so trefflich meinte: „Jeder Künstler weiss, das ein Bild erst interessant wird, wenn es sich sprachlich nicht fassen lässt.“